Nachdem die Grippewelle ihren üblichen Verlauf nimmt und auch die Keuchhustenepidemie kaum noch eine Schlagzeile wert ist, braucht es neue Schreckensszenarien und die Medien (Ärztezeitung 2017, BR 2017) finden sie in Altbewährtem: sie warnen einmütig vor einer Rückkehr der Diphtherie - möglich natürlich nur wegen der viel gescholtenen Impfmüdigkeit der Deutschen...
Die Epidemiologie der Diphtherie in Deutschland liefert ein klassisches Beispiel dafür, wie man aus durchaus korrekten Zahlen "Fake-News" und mit diesen Hysterie produziert:
In den letzten Jahren gab es pro Jahr in Deutschland folgende Zahl von gemeldeten Diphtherie-Erkrankungen:
(RKI - Infektionspidemiologische Jahrbücher 2009-19 und SurvStat@RKI - klicken Sie auf die Graphik für eine größere Darstellung)
Bei der genauen Betrachtung der Zahlen fällt aber auf:
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die seit 2009 betrachteten Zahlen zeigen tatsächlich eine eindeutige Zunahme - in relativen Zahlen um fast 400 Prozent (!) - in absoluten Zahlen von 4 Fällen bei mehr als 80 Millionen Einwohnern auf zuletzt 15 Fälle bei mehr als 80 Millionen Einwohnern... was schon etwas anders klingt...
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diese Zunahme betrifft ganz überwiegend Fälle von Haut-Diphtherie (HD - s. Graphik) - diese ist, selbst wenn sie durch toxigene (Gift-bildende) Diphtherie-Bakterien ausgelöst wird, deutlich harmloser als die "klassische Diphtherie" (LGL 2017, CDC Pinkbook Diphtherie). Selbst im Fall einer HD durch toxigene Diphtherie-Bakterien ist die Toxinmenge in der Regel so gering, dass toxische Symptome "extrem selten" sind (LGL Bayern 2017).
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In den meisten Fällen von HD, die in westlichen Ländern erworben wird, wird diese ohnehin von nicht-toxigenen Bakterien verursacht, diese Fälle können weder toxisch-systemische Komplikationen auslösen, noch könnten sie durch die Impfung, die ja nicht vor der Infektion, sondern nur vor der Gift-Wirkung schützt, verhindert werden.
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in Deutschland treten mittlerweile vor allem Fälle auf, die durch Corynebakterium ulcerans ausgelöst sind: seit 2009 wurden in Deutschland 88 Fälle von Diphtherie durch C. ulcerans ausgelöst verglichen mit 35 Fällen von Diphtherie durch "klassische Diphtherie-Bakterien" im gleichen Zeitraum (Survstat@RKI).
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C. ulcerans ist auch in anderen westlichen Ländern mittlerweile häufiger Erreger von Diphtherie durch das "klassische Diphtherie-Bakterium" (LGL 2017) und hier stellen, anders als bei der "klassischen Diphtherie" auch Haus- und Wildtiere (z.B. Igel (Berger 2019)) ein Erregerreservoir. Dies vermindert die Bedeutung der Impfung für die Epidemiologie der Diphtherie substantiell.
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Auch die deutliche Zunahme im Jahr 2018 beruhte fast ausschließlich auf dieser Zunahme von C. ulcerans-Fällen (SurvStat@RKI).
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Inwieweit die Diphtherie-Impfung überhaupt gegen das Toxin von C. ulcerans schützt, ist offen (Otsuji 2019, RKI 2015), die Auswirkungen der "klassischen Diphtherie-Impfung" auf die Epidemiologie der C. ulcerans-Fälle (Stichwort: "Herdenimmunität") völlig unbekannt - damit ist die Behauptung, die beobachteten Phänomene lägen an der "Impfmüdigkeit" schlicht: lächerlich....
Es zeigt sich, dass
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die behauptete "Rückkehr der Diphtherie" sich in absoluten Zahlen betrachtet auf so niedrigem Niveau bewegt, dass sich jede Aussage, die wissenschafltich ernst genommen werden will, dazu verbietet
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das behauptete Risiko, sich in Deutschland mit einer Diphtherie zu infizieren, definitiv nicht ansteigt, sondern (verschwindend) gering bleibt - und dies trotz des vom RKI eingeräumten völlig unzureichenden Impfschutzes bei Erwachsenen
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weder die Zunahme durch Impfmüdigkeit zu erklären ist, noch befürchtete Komplikationen durch die Impfung zuverlässig verhindert werden könnten.
Berücksichtigt man darüber hinaus, wie schwierig die Frage der Herdenimmunität bei der Diphtherie abschließend zu beantworten ist (s. Herdenimmunität), bekommt die ganze hysterisch-moralisierende Diskussion einen - vorsichtig formuliert - etwas bizarren Charakter....
Ärztezeitung vom 22.02.2017. Abruf 12.04.2017
Berger A. 2019. Emerging Microbes & Infections. 8(1):211–17
BR vom 09.04.2017. Abruf 12.04.2017
CDC. Pinkbook - Diphtheria. Abruf 12.04.2017
ECDC. Annual Epidemiological Report 2016 – Diphtheria. Abruf 12.04.2017
LGL Bayern. Diphtherie - Internetangebot. Abruf 13.04.2017
Otsuji K. 2019. Emerg Infect Dis. 2019 Nov; 25(11): 2122–2123.
Poethko-Müller C. Bundesgesundheitsbl 2013. 56:845–857. DOI 10.1007/s00103-013-1693-6
RKI EpiBull 2011, Nr. 27
RKI. Infektionsepidemiologisches Jahrbuch meldepflichtiger Krankheiten für 2010, 2011, 2012, 2013, 2014, 2015, 2016, 2017, 2018, 2019. Berlin
WHO. Diphtheria. Abruf 12.04.2017