Monate vor der eigentlich üblichen Aktualisierung der STIKO-Empfehlung im August eines jeden Jahres veröffentlichten RKI und STIKO schon im Juni 2018 die Empfehlung der HPV-Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs für Jungen und junge Männer. Was steckt dahinter?

Mit einer Durchimpfungsrate von spürbar unter 50% bleibt die HPV-Impfung bei Mädchen in Deutschland deutlich hinter den Erwartungen der STIKO (und sicher auch der Herstellerfirmen...) zurück (auch wenn die landesweite Impfquote bei Jugendlichen in den USA trotz de facto Impfpflicht in zahlreichen Bundesstaaten ebenfalls ≤ 50% beträgt (Walker 2018)).

Da naturgemäß die Argumentation mit dem angenommenen (unverändert noch unbewiesenen!) Schutz vor Zervixkarzinomen für Jungen und Männer wenig Überzeugungskraft entfaltet, wird hier von der STIKO anders argumentiert - es ginge zum einen ausdrücklich auch darum, "die gesellschaftliche Verantwortung für eine Reduktion der HPV-Krankheitslast in Deutschland auf beide Geschlechter [zu verteilen]" (RKI 2018) - dies ist ein qualitativ neues Argument für eine Schutzimpfung: Impfen aus Gründen der Gleichberechtigung ("Equity") (Harder 2019). Zum anderen ginge es - so die STIKO - aber auch darum, die zahlreichen anderen bösartigen Erkrankungen, die mit einer HPV-Infektion assoziiert sind, zu reduzieren. 

 

Eine Assoziation zu einer Infektion mit HPV wird vermutet für die folgenden Tumore:

Peniskarzinom

Eine seltene Krebsart, die in Deutschland pro Jahr etwa 800 vorwiegend ältere Männer betrifft (etwa 1,3 Fälle pro 100.000 Einwohner und Jahr) (RKI 2018).

Risikofaktoren des Peniskarzinoms sind: mangelnde Hygiene (Smegma), Vorhautverengung, Rauchen; Ein protektiver Faktor ist die Beschneidung - Peniskarzinome sind in Ländern mit traditionell hoher Beschneidungsrate der Männer deutlich seltener (Protzel 2013)

Trotz fehlender Zunahme der Beschneidungsrate ist die Häufigkeit des Peniskarzinoms in Deutschland in den letzten 50 Jahren um die Hälfte gesunken. Dies wird mit der Zunahme an Hygiene erklärt, da alle weiteren Risikofaktoren anstiegen (Manski 2018)

Eine Infektion mit HPV ist bei weniger als der Hälfte der Peniskarzinome nachweisbar (Miralles-Guri 2009) - das sind in Deutschland also weniger als 400 Fälle pro Jahr. "In diesem Zusammenhang scheint eine generelle Prävention des Peniskarzinoms durch eine HPV-Vakzinierung nicht möglich" (Protzel 2013).

 

Analkarzinom

Ebenfalls ein seltener Krebs, der in der Normalbevölkerung in Deutschland eine Häufigkeit von etwa 1,5/100.000 Einwohner und Jahr aufweist, Frauen erkranken hier etwas häufiger (Raptis 2015).

Die Häufigkeit des Analkarzinoms ist stark mit bestimmten Risikoverhaltensweisen assoziiert - so beträgt sie bei Männern, die sexuellen Kontakt mit Männer pflegen (MSM) 35/100.000/Jahr, und bei HIV-positiven MSM 75 - 135/100.000/Jahr (Glynne-Jones 2014)

"Risikofaktoren für das Auftreten von Analkarzinomen stellen rezeptiver Analverkehr, Immundefizienz bzw. Immunsuppression (einschließlich HIV-Positivität), häufig wechselnde Sexualpartner und Tabakkonsum dar" (RKI 2018).

Bei 85 - 90% der Analkarzinome lässt sich eine HPV-Infektion nachweisen (RKI 2016, Raptis 2015, de Martel 2012), somit sind in  Deutschland ≤ 600 Fälle pro Jahr HPV-assoziiert.

 

Plattenepithel-Karzinome des Mund-Rachen-Bereichs (Oropharyngeal-Karzinome - OPC)

Eine etwas häufigere Gruppe bösartiger Erkrankungen mit einer Häufigkeit (in D) von  1,6 - 2,6/100.000/Jahr, Männer sind hier deutlich häufiger als Frauen betroffen (RKI 2108).

Risikofaktoren: Rauchen, Alkohol, vor allem in Kombination (RKI 2016). Es gibt darüber hinaus eine positive Assoziation mit der Anzahl der Sexualpartner (Leinmüller 2012).

Die Assoziation mit HPV-Infektionen ist bei den OPC regional sehr unterschiedlich bedeutsam: in den USA sind fast 60%, in Europa 30 - 40 %, in Südamerika 4% HPV-assoziiert (Anantharaman 2017, RKI 2016, Abogunrin 2014, de Martel 2012).

Die HPV-assoziiierten OPC haben eine deutliche bessere Prognose als die nicht-HPV-assoziierten OPC (Nelson 2017, Leinmüller 2012, Chaturvedi 2011).

 

Zum Argument der Herdenimmunität

Zu dieser Frage existieren im wesentlichen zwei Metaanalysen, deren Autoren in beiden Fällen teilweise massive Interessenkonflikte mit den Impfstoffherstellern einräumen müssen:

Eine (moderate) Herdenimmunität durch die HPV-Impfung wird bei Durchimpfungsraten bei Mädchen > 50% angenommen/beobachtet (Drolet 2015) - die Durchimpfungsrate in Deutschland bei den 17-Jährigen (Mädchen) liegt < 45% (Rieck 2018).

Die andere Metanalyse findet Herdeneffekte schon bei geringeren Durchimpfungsraten, schlussfolgert dann aber: "Given the substantial herd effects of girls-only vaccination when coverage is moderate to high, the incremental benefit of vaccinating boys is predicted to be small." (Brisson 2016).

 

Zur Frage der Wirksamkeit der HPV-Impfung bei Jungen und Männern

Es gibt nur sehr wenige Studien zur Effektivität der Impfung bei Jungen und Männern und alle sind direkt finanziert durch die Herstellerfirmen des HPV-Impfstoffs. Nur eine von ihnen (eine Untersuchung an homosexuellen Männern) findet überhaupt einen Schutzeffekt vor Krebsvorstufen des Analkarzinoms - mit einer sehr moderaten Schutzwirkung von knapp 26% bezogen auf HPV-assoziierte (!) Veränderungen (Palefsky 2011). Eine zweite Untersuchung (plazebokontrolliert, doppelblind) fand diesbezüglich überhaupt keinen Schutzeffekt (Giuliano 2011).

Untersuchungen zur Wirksamkeit der HPV-Impfungen gegen OPC oder dessen Vorstufen gibt es nicht.

Insgesamt ist der Anteil der spontanen Ausheilung von HPV-Infektionen ("Clearance") bei Männern noch höher als ohnehin schon bei Frauen (Taylor 2016), bei denen dies unverändert auch der regelhafte Verlauf einer solchen Infektion ist.

Die STIKO selbst bewertet die Qualität der wissenschaftlichen Daten zur Wirksamkeit der HPV-Impfung bei Jungen und Männern (analysiert nach dem so genannten GRADE-System) als "sehr niedrig" (Harder 2019).

 

Zusammenfassung

Mit der generellen Empfehlung der HPV-Impfung für Jungen verdoppelt die STIKO neben der Zahl der Impflinge auch die Kosten dieser ohnehin ungewöhnlich teuren Impfung. Begründet wird dies mit der Annahme eines bis dato unbewiesenen Schutzes vor seltenen Krebsarten, deren Risiko entweder mit einfachen Mitteln durch jeden Einzelnen vermindert werden kann (Peniskarzinom - Sexualhygiene), oder  ganz überwiegend einzelne gesellschaftliche Gruppen betrifft, die sich durch eine gezielte Impfung oder den Gebrauch von Kondomen schützen könnten (Analkarzinom - MSM) oder deren Risiko über individuelles Verhalten steuerbar ist (OPC - Alkohol plus Rauchen).

Unabhängige Studien, die für die HPV-Impfung eine klinisch relevante Herdenimmunität bezüglich ihrer ursprünglichen Zielerkrankung (dem Zervix-Karzinom) nachweisen, fehlen bisher. Daher steht das von der STIKO vorgebrachte Argument, homosexuelle Männer profitierten nicht von der Herdenimmunität, die durch die Impfung von Frauen und Mädchen erreicht würde, auf tönernen Füßen und lässt die Möglichkeit außer Acht, dass MSM sich durch den gerade für diese Risikogruppe besonders empfohlenen Gebrauch von Kondomen (denn MSM haben ein deutlich erhöhtes Risiko auch für andere sexuell übertragbare Erkrankungen) auch vor einer HPV-Infektion schützen können: "Consistent condom use was strongly associated with lower HPV prevalence in men" (Nielson 2010). Hielte man denn einen HPV-Impfschutz für diese Gruppe für sinnvoll, wäre er durch eine gezielte risikogruppenorientierte Impfstrategie mit nur einem Bruchteil der Kosten (und Risiken) einer generellen Impfempfehlung erreichbar. Und selbst wenn das gezielte Impfen dieser Gruppe von Jugendlichen eine Herausforderung darstellt (Goodreau 2018), stellt sich die Frage, ob der angenommene (!) Schutz einer relativ kleinen Bevölkerungsgruppe (in Deutschland etwa 6% der Jungen/Männer, Dalia 2016), die ihr persönliches Infektionsrisiko darüberhinaus durch protektive Maßnahmen (Kondome) selbst zu steuern in der Lage ist, eine Impfempfehlung für die Gesamtbevölkerung rechtfertigen kann.

Zusätzliche alternative Schutzstrategien wie der Gebrauch von Kondomen werden von der STIKO mit der lapidaren Bemerkung abgetan, diese schützten nicht sicher vor der HPV-Infektion - das aber tut die HPV-Impfung definitiv auch nicht (nicht zuletzt, weil sie nur einen kleinen Teil der existierenden HPV-Typen erfasst); Kondome senken aber nachgewiesenermaßen das HPV-Infektionsrisiko unabhängig vom HPV-Serotyp (Lam 2014, Campbell 2013, Nielson 2010, Winer 2006). Zusätzlich fördert der konsequente Gebrauch von Kondomen die Rückbildung schon bestehender, chronischer HPV-Infektionen und der damit verbundenen Zellveränderungen bei Frauen (Munk 2012, Hogewoning 2003).

Einer der Hauptkritikpunkte an der Einführung der HPV-Impfempfehlung im Jahr 2007 war und ist deren damals überstürzte Verabschiedung (Abholz 2007) - jenseits von jeder ritualisierten Aktualisierung der STIKO-Impfempfehlungen einmal im Jahr, was damals den Eindruck erweckte (erwecken sollte?), es handele sich bei dieser damals wie heute nicht unumstrittenen Empfehlung um eine unaufschiebbare epidemiologische Notfallmaßnahme... . Es ist ein Treppenwitz der Impfgeschichte (oder ist es vielleicht ein unerkannt selbstironisches Zitat des eigenen damaligen (Fehl-)Verhaltens durch die STIKO?), dass auch 2018 die noch viel umstrittenere HPV-Impfempfehlung für Jungen wieder ohne jede Not erneut als impfologische ejaculatio praecox Monate vor der eigentlich üblichen, jährlichen Aktualisierung veröffentlicht und in Kraft gesetzt wird.

Die parallel gelieferte "Wissenschaftliche Begründung" (STIKO 2018) enthält zahlreiche Ungereimtheiten - so wird der Gebrauch von Kondomen mit dem Hinweis auf die Arbeit von Nielson desavouiert, deren Autoren nun gerade einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Gebrauch von Kondomen und einem verminderten HPV-Infektionsrisiko fanden (Nielson 2010). Das industrieunabhängige arznei-telegramm weist darüber hinaus darauf hin, dass als Nachweis eines möglichen Impfnutzens unveröffentlichte Studien zitiert werden, deren Falldefinitionen nicht mit international üblichen (und auch von der STIKO verwendeten) übereinstimmen und fragt süffisant, ob diese Abweichungen der STIKO überhaupt aufgefallen seien (a-t 2018). Darüber hinaus wurden in diesen Studien teilweise sekundäre Studienendpunkte nachträglich definiert - ein wissenschaftlich immer hochproblematisches Vorgehen.

Der einzig erfreuliche Aspekt dieser Impfempfehlung ist, dass der Gebrauch von Impfstoffen außerhalb ihrer Zulassung (off-label) jetzt auch Eingang findet in die offizielle Impfempfehlung der STIKO: für die jetzt offiziell erweiterten Impfziele (Prävention von Anal/Penis/Oropharyngeal-Karzinomen) fehlt den HPV-Impfstoffen nämlich jede Zulassung... .

Und - so unerlässlich der Gedanke der Gleichberechtigung in vielen Lebensbereichen ist: ob er als wissenschaftliche Grundlage für die Empfehlung einer Impfung ausreicht, deren Wirksamkeit von den Empfehlenden als "sehr niedrig" (Harder 2019) eingestuft wird, bleibt mehr als fraglich...

 

 

Literatur

Abholz H. 2007. ZFA - ZFA. 83(2):57–60

Anantharaman D. 2017. Int J Canc. 140(9):1968–75

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Brisson M. 2016. The Lancet Public Health. 1(1):e8–17

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Giuliano AR. 2011. New England Journal of Medicine. 364(5):401–11

Glynne-Jones R. 2014. Annals of Oncology. 25(suppl 3):iii10–20

Goodreau SM. 2018. J Adolesc Health. 62(3):311-319

Harder T. 2019. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz. First online am 14.02.2019. Abruf 28.02.2019

Hogewoning CJA. 2003. International Journal of Cancer. 107(5):811–16

Lam JUH. 2014. Journal of Medical Screening. 21(1):38–50

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Munk A. 2012. Infectious Agents and Cancer. 7(1):30

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Nielson CM. 2010. The Journal of Infectious Diseases. 202(3):445–51

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Protzel C. 2013. Onkologe 19:149–162

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Taylor S.  2016. BMC Infectious Diseases. 16(1):

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Winer RL. N Engl J Med 2006; 354: 2645-54.