Enzephalitis (Hirnentzündung) und bakterielle Meningitis (Hirnhautentzündung) gehören zu den schwersten und komplikationsträchtigsten Infektionskrankheiten überhaupt. Sie zu verhindern war und ist das erklärte Ziel zahlreicher Impfungen und Impfprogramme, die sich teilweise gegen virale (Masern, Mumps, Röteln, Windpocken), teilweise gegen bakterielle Erreger (HiB, Pneumokokken, ...) dieser Krankheitsbilder richten. Deren Effekte auf die Häufigkeit der eigentlichen Erkrankungen sind jedoch oft unvorhersehbar.

Bakterielle Meningitis

Mit der HiB-, der Meningokokken- und der Pneumokokken-Impfung existieren Impfstoffe gegen zahlreiche der klassischen Erreger einer eitrigen Meningitis und diese können in den Zulassungsstudien zunächst oft auch überzeugen; legt man jedoch den einzig entscheidenden Maßstab an, inwieweit eine Impfung nicht nur vor einem Erreger, sondern vor einer Krankheit schützt, ergeben sich teilweise deutlich ernüchterndere Ergebnisse. Denn: auch für die STIKO ist "Unmittelbares Ziel einer Impfung […], den Geimpften vor einer bestimmten Krankheit zu schützen" (RKI 2016) - nicht nur vor einem bestimmten Erreger dieser Krankheit.

Gerade bei der bakteriellen Meningitis gibt es immer mehr Studien, die nachweisen, dass dies ein entscheidender Unterschied ist: eine Impfung, die die Häufigkeit eines bestimmten Erregers für eine bestimmte Erkrankung deutlich verringert, verringert damit noch lange nicht die Häufigkeit der Erkrankung selbst, da andere Erreger "nachrücken" - ein Phänomen, das humanistisch gebildete Epidemiologen den "horror vacui" nannten und nennen und das wir heute unter dem Begriff "replacement-Phänomen" kennen.

Vor allem bei der größten Familie von Meningitis-Erregern - den Pneumokokken - ist dieses Problem mittlerweile bekannt und gut untersucht, enthalten doch auch die modernen Pneumokokken-Impfstoffe der zweiten Generation maximal 13 von insgesamt 90 Pneumokokken-Serotypen; und (fast) in dem (selben) Maße, in dem die Impfung vor den enthaltenen Serotypen schützt, treten die nicht im Impfstoff enthaltenen Pneumokokken-Typen häufiger auf (s. Pneumokokken - Die Impfung). Dies ist gerade für die durch Pneumokokken ausgelöste eitrige Meninigitis in Studien klar belegt (Olarte 2015).

Eine langfristige und umfassende Untersuchung dieses Phänomens wurde 2016 von der WHO selbst veröffentlicht: eine Untersuchung über die Häufigkeit der Erkrankung Meningitis/Hirnhautentzündung im Golfstaat Bahrain über den Zeitraum von 24 Jahren (1990 - 2013) (Saeed 2016):

  • obwohl in diesem Zeitraum drei Impfprogramme gegen klassische Erreger der eitrigen Meningitis erfolgreich eingeführt wurden (HiB, Meningokokken, Pneumokokken)

  • und diese Impfprogramme jeweils zweifelsfrei die Häufigkeit des jeweiligen Erregers als Auslöser einer eitrigen Meningitis verminderten

  • blieb die Gesamthäufigkeit der Krankheit "bakterielle Meningitis" pro 100.000 Einwohner und Jahr in Bahrain über diesen gesamten Zeitraum faktisch unverändert.

 

Bahrain 1990 2013

 

 

Auch bei den Meningokokken musste die WHO vergleichbare Erfahrungen machen:

  • mit großem Aufwand wurde im so genannten "meningitis-belt" (einer von Meningokokken-Erkrankungen seit langem besonders stark betroffenen Region Zentralafrikas) eine Meningokokken A-Impfkampagne durchgeführt, denn diese waren über lange Zeit hinweg die für die Hirnhautentzündungen im wesentlichen verantwortlichen Erreger.

  • Durch diese Impfkampagne konnte die Meningokokken A-Erkrankungen dort substantiell zurückgedrängt und vorübergehend auch die Gesamtzahl der Meningokokkenerkrankungen vermindert werden, bevor seit 2010 mit den Meningokokken W und seit 2015 mit Meningokokken C andere Stämme in den Vordergrund traten:

  • "An increase in serogroup W incidence in 2010 and serogroup C in 2015, however, caused a similar number of cases as seen prior during the serogroup A epidemics" (Figueiredo 2018).

  • Gleichzeitig kam es zu einer deutlichen Zunahme von Pneumokokken-Meningitiden (Agier 2017).

 

Enzephalitis

Eine vergleichbare Studie untersucht über sogar 30 Jahre die Häufigkeit der Erkrankung Hirnentzündung/Enzephalitis bei Kindern und Jugendlichen bis 19 Jahre in England (Iro 2017) - die Ergebnisse sind ähnlich ernüchternd:

  • vor der Einführung der MMR-Impfung waren Masern und Mumps für mindestens 30% der Fälle von Enzephalitis in England verantwortlich (s. Fig 1 und 2) - dies deckt sich mit schon älteren Angaben z.B. aus Finnland, die einen ähnlich hohen Anteil von MMR an den Enzephalitisfällen bei Kindern nennen (Koskiniemi 1989).

  • die Einführung der MMR-Impfung 1988 verminderte diese Fälle in England drastisch (Abbildung Fig 2, A für Masern, B für Mumps)

  • dennoch ist die einzige relevante Abnahme der Enzephalitis-Häufigkeit insgesamt vor der Impfeinführung zu beobachten; danach kommt es allmählich zu einem deutlichen Wiederanstieg, mittlerweile sind die Fälle von Enzephalitis pro 100.000 Einwohner und Jahr (Fig 1, blaue Linie) häufiger als vor 1980.

  • einer der Gründe ist die Zunahme der so genannten ADEM, einer akuten, vor allem die Markscheiden der Nervenfasern betreffenden Form der Enzephalitis. Die Ursache der ADEM ist - wie der der ihr verwandten Multiplen Sklerose - nicht letztendlich geklärt, eine der möglichen Ursachen sind auch Impfungen.

 

Enzephalitis GB Iro 2017

(aus Iro 2017)

 

So wenig wie ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Einführung der MMR-Impfung und dem Ansteigen der Enzephalitis- und vor allem der ADEM-Fälle aus den vorliegenden Daten behauptet werden kann, so wenig hat die Einführung der MMR-Impfung aber eben auch irgendeinen nachhaltigen positiven Effekt auf die Häufigkeit der Enzephalitis bei Kindern insgesamt gehabt - und dies, obwohl die Masern- und Mumps-bedingten Hirnentzündungen vor der Impfeinführung rund ein Drittel der Fälle ausmachten und diese jetzt wegfallen.

Es zeigt sich, wie irreführend Betrachtungen sind, die sich fragmentarisch nur auf einzelne Aspekte eines epidemiologischen Phänomens beschränken und wie wenig wir bis heute von den hochkomplexen Gesamtzusammenhängen von Gesundheit und Krankheit verstanden haben - was uns aber nicht davon abhält, mit kostenintensiven und auch durchaus nebenwirkungsträchtigen Impfprogramme tief in diese Zusammenhänge einzugreifen.

 

Literatur

Agier L. 2017. International Journal of Infectious Diseases. 54:103–12

Figueiredo AHA. 2018. Neurologic Clinics. 36(4):809–20

Iro MA. Lancet Infect Dis. 2017 Apr;17(4):422-430. Abruf 17.06.2017

Koskiniemi M. Lancet. 1989 Jan 7;1(8628):31-4. Abruf 17.06.2017

Olarte L. Clin Infect Dis (2015) doi: 10.1093/cid/civ368

RKI. EpiBull 34/2016. Abruf 14.01.2017

Saeed N. East Mediterr Health J. 2016 Jun 15;22(3):175-82. Abruf 14.01.2017.