Pünktlich wie jedes Jahr: die ersten Frühlingsboten - Vogelgesang frühmorgens, Krokusse im Garten, Horrorbilder ins monsterhafte vergrößerter Blutsauger in der Auslage Ihrer freundlichen Apotheke und Hiobsbotschaften aus dem Robert Koch-Institut (RKI): auch letztes Jahr FSME in noch mehr Landkreisen als ohnehin schon... und jetzt auch noch in München auf dem Viktualienmarkt... . Die gemeine Zecke als zunehmend nationale, vielleicht bald sogar globale Bedrohung? Ein Faktencheck... .

Über die atemberaubende Rechenakrobatik, mit der das RKI so genannte Risikogebiete für FSME herbeirechnet, ist in den vergangenen Jahren viel geschrieben worden, unter anderem auch hier - über deren Motivation wurde ebenso viel spekuliert, unter anderem auch vom honorigen, weil industrieunabhängigen arznei-telegramm, das schon 2007 schrieb: "Die Idee könnte aus den Marketingabteilungen der Hersteller von FSME-Impfstoffen stammen".

Die Ergebnisse dieser mathematischen Salti mortale veröffentlicht das RKI auch dieses Jahr wieder im Epidemiologischen Bulletin (RKI 2024) in unübertrefflicher sprachlicher Schönheit

"Ein Kreis wird als FSME-Risikogebiet definiert, wenn die Anzahl der übermittelten FSME-Erkrankungen in mindestens einem der 17 Fünfjahreszeiträume im Zeitraum 2002 – 2022 im Kreis ODER in der Kreisregion (bestehend aus dem betreffenden Kreis plus allen angrenzenden Kreisen) signifikant (p < 0,05) höher liegt als die bei einer Inzidenz von 1 Erkrankung pro 100.000 Einwohner erwartete Fallzahl.". (RKI 2024)

Zusätzlich behauptet das RKI seit Jahren, FSME-Naturherde seien mehr als stabil und man müsse daher mindestens 20 Jahre nach deren Nachweis von einem Risikogebiet sprechen. Daher bleiben Landkreise Risikogebiet, auch wenn die tatsächlichen Fallzahlen der letzten Jahre dieses Kriterium längst nicht mehr erfüllen (RKI 2024). Das vom RKI hier vorgebrachte zusätzliche Argument, die FSME-Impfung verzerre ja ohnehin das eigentliche Risiko, da sie bei weiterhin vorhandener Zeckengefahr zu weniger FSME-Fällen führe, konterkariert das RKI zwanglos im selben Epidemiologischen Bulletin, indem ausdrücklich beklagt wird "Die Impfquoten sind auch in Risikogebieten eher niedrig... [und]  seit dem Jahr 2013 […] in fast allen Bundesländern leicht rückläufig."

Die aus all diesem resultierenden Karten sind altbekannt, schmücken sie doch um diese Jahreszeit jede Apothekenauslage:

FSME EpiBull 9 2024

Nun ist die FSME kein deutsches Phänomen, sie spielt als tick-borne encephalitis TBE auch international eine Rolle und daher gibt es für ein "Risikogebiet" auch eine WHO-Definition. Diese ist selbst für mathematische Einfachversteher (wie den Autor dieses Artikels) leicht zugänglich:

"In areas where the disease is highly endemic (that is, where the average prevaccination incidence of clinical disease is ≥5 cases/100 000 population per year), implying that there is a high individual risk of infection, WHO recommends that vaccination be offered to all age groups, including children." (WHO 2011).

Die Konsequenz von WHO und RKI ist die gleiche: in Risikogebieten sollte eine allgemeine Impfempfehlung ausgesprochen werden - nur: die WHO fordert für die Definition "Risikogebiet" 25 (in Worten: fünfundzwanzig) mal mehr FSME-Fälle in einer Region als das RKI (WHO: ≥ 5/100.000/Jahr - RKI: > 1/100.000/5 Jahre)

Überträgt man dieses WHO-Kriterium auf die Zahlen in Deutschland, ergibt sich diese Karte. Hier sind in dunkelblau die RKI-Risikogebiete dargestellt, in rot die WHO-Risikogebiete. Die Perspektive des RKI über 20 Jahre wurde hier übernommen, ja übererfüllt, denn als WHO-Risikogebiet ist hier jede Region kartiert, die seit 2001 ggf. auch nur in einem einzigen Jahr eine Inzidenz von ≥ 5/100.000 aufwies.

 

Zusammengefasst gibt es nach den WHO-Kriterien nicht - wie vom RKI "errechnet" - 180, sondern lediglich 56 "Risikogebiete", für die eine allgemeine FSME-Impfempfehlung als sinnvoll behauptet wird.  (Und dies sind die schon seit Jahrzehnten bekannten Regionen wie der Bayerische Wald, der Schwarzwald, das Allgäu...). Wie gut, dass die STIKO - ebenfalls entgegen den Positionen der WHO - zumindest weiterhin die Auffrischimpfung alle 3 - 5 Jahre empfiehlt... und nicht wie international mittlerweile üblich, nur alle 10 Jahre. Das erhält Deutschland als eines der letzten geschützten Umsatzbiotope der FSME-Impfstoff-Hersteller....

Zu Risiken und Nebenwirkungen dieser Karte fragen Sie besser nicht Ihren Arzt oder Apotheker: es könnte durchaus sein, dass die gewünschte alljährliche Zeckenhysterie ernsthaft Schaden nimmt...


Eine aktuelle (2023) Bestätigung findet diese Einschätzung durch eine Studie, an der Autoren der ECDC und interessanterweise auch des RKI beteiligt waren: unter ausdrücklichem Verweis auf die oben beschriebene WHO-Position zur Impfempfehlung findet eine Analyse des Zeitraums zwischen 2012 und 2020 buchstäblich nur eine Handvoll "echter" Risikogebiete in Deutschland (Heuverswyn 2023):

Heuverswyn 2023

a-t 2007; 38: 70-1

Heuverswyn J. 2023. https://doi.org/10.2807/1560-7917.ES.2023.28.11.2200543

RKI. 2024. EpiBull 9/2024

WHO. 2011. WER 24; 86:241–256