Die Kontroverse um die Zahl der notwendigen Masernimpfungen (Eine? Zwei? noch mehr??) ist nicht erst mit der Diskussion um eine Masernimpfpflicht in Deutschland voll entbrannt - leider zeugen viele Aussagen auch selbsternannter Fachleute hier von wenig Sachkenntnis... . Welche Rolle spielt denn jetzt zumindest die zweite Masernimpfung und ist sie so zentral wichtig wie behauptet?

Wie bei (fast) allen Impfungen reagieren auch bei der Masernimpfung beide Teile des Immunsystems und sind gemeinsam für die entstehende Schutzwirkung verantwortlich (Näheres s. hier).

Für die Routineerfassung einer Masernimmunität - sei es nach Impfung oder nach Erkrankung - wird üblicherweise der "humorale" Teil des Immunsystems untersucht, indem masernspezifische Antikörper im Blut bestimmt werden. Überschreiten diese eine bestimmte Höhe ("Serokonversion"), wird Schutz vor typischer Erkrankung angenommen.

Die letztendlich entscheidende Wirksamkeit der Impfung bemisst sich jedoch immer erst retrospektiv nach einem größeren Ausbruch der Erkrankung in der Analyse der tatsächlichen Schutzwirkung (um wie viel geringer war das Risiko zu erkranken - die "attack rate" - bei Geimpften verglichen mit Ungeimpften).

 

Eine Masernimpfung nach dem ersten Geburtstag (wie von der WHO und in fast allen europäischen Ländern empfohlen) führt bei mindestens 95% der Kinder zu als schützend angenommenen Antikörperspiegeln ("Serokonversion") und einem Schutz vor der Masernerkrankung (Di Pietrantonj 2020).

Bei einer ersten Impfung zwischen dem 9. Lebensmonat und dem ersten Geburtstag - wie es die STIKO offiziell z.B. bei Krippenbesuch empfiehlt - lässt sich dies nur bei 85 - 90% der Geimpften nachweisen, bei einer mittlerweile diskutierten Erstimpfung vor dem 9. Lebensmonat sogar nur bei 60 - 70% (Strebel 2018, WHO 2017, Orenstein 1986).

Auch für die Schutzeffekte des zellulären Immunsystems scheint das Alter eine bedeutende Rolle zu spielen: auch diese sind bei einer Impfung vor dem ersten Geburtstag wesentlich geringer ausgeprägt (Strebel 2018, Gans 2001).

 

Die Schutzwirkung zweier Masernimpfungen beträgt einer systematischen Literaturübersicht von Cochrane aus dem Jahre 2020 zu Folge: 96% - also ein Prozent mehr, als die einer einmaligen Masernimpfung (Pietrantonj 2020)

Dabei ist die Zielrichtung der zweiten Masernimpfung - auch laut Robert Koch-Institut (RKI) nicht die Verbesserung des durch die erste Impfung in der Regel schon entstandenen Schutzes des einmal Geimpften: "Die zweite Impfung dient vorrangig dazu, die Immunität bei denjenigen Kindern zu erreichen, die nach der ersten Impfung keinen ausreichenden Impfschutz aufgebaut haben." (RKI 2012) - dies scheint jedoch, folgt man der genannten Analyse von Cochrane - nur in einem sehr kleinen Teil der Fälle zu gelingen.

Denn anders als bei Nicht-Lebend-Impfungen wie z.B. Tetanus, bei denen die Grundimmunisierung in der Regel schon aus mehreren Impfdosen besteht und meist regelmäßige Auffrischungen in größeren Abständen für ein Aufrechterhalten des Schutzes erforderlich sind, erhöht eine Zweitimpfung (MCV2) gegen Masern den Schutz des einzelnen Geimpften nicht:

Es kommt zwar auch bei Kindern, die nach der MCV1 bereits Antikörper gebildet hatten, zu einem Anstieg dieser Titer nach einer zweiten Impfung ("booster") - dieser ist aber nur vorübergehend und der Antikörperspiegel erreicht nach einigen Monaten wieder das Ausgangsniveau von vor der MCV2 (Carryn 2019, Strebel 2018). Dieser passagere booster-Effekt ist umso ausgeprägter, je geringer die Ausgangswerte vor der MCV2 sind, führt aber nicht zu einer anhaltenden Verbesserung der Antikörpertiter beim Geimpften.

Einzelne Studie finden jedoch, dass die positiven Effekte, die eine MCV2 auf das zelluläre Immunsystem zeigt, auch bei nachlassenden Antikörperspiegeln (die ja Teil des humoralen Immunsystems sind) länger anhalten (Ward 1995), die klinische Bedeutung dieser (wenigen) Untersuchungen ist unklar.

Auch die Schutzdauer der Masernimpfung wird nach den Ergebnissen der KiGGS-Studie des RKI durch zwei Masernimpfungen nicht verlängert (Poethko-Müller 2011).

Dass der auch durch zwei Masernimpfungen entstehende Schutz des Einzelnen nicht vollständig ist, zeigen unter anderem auch Zahlen des Robert Koch-Instituts: "Zwischen 10 % und 25 % der geimpften Masernfälle waren in den letzten 15 Jahren bei Ausbruch der Erkrankung zweifach geimpft." (Matysiak-Klose 2018).

 

Angesichts der Erkenntnis, dass die Schutzdauer der Masernimpfung (auch bei zweimaliger Gabe) anders, als früher (und vom RKI noch heute) angenommen, keineswegs lebenslang anhält (s. hier), werden zunehmend weitere Masernimpfungen im Laufe des Lebens diskutiert: hier lässt sich bisher aber kein Nutzen nachweisen.

"While a third MMR dose may successfully immunize the rare individual who failed to respond after two doses, MMR3 is unlikely to solve the problem of waning immunity" (Fiebelkorn 2016). Das heisst: von den Menschen, die auch nach der MMR2 keine Immunität aufgebaut haben (primäres Impfversagen, s. hier), wird ein Teil nach einer MMR3 noch schützende Antikörper bilden. Bei den Menschen, die nach MMR1 oder MMR2 schon eine Immunität entwickelt haben (das ist die überwiegende Mehrzahl), wird diese Immunität nach jetzigem Kenntnisstand weder besser noch länger wirksam - die MMR3 ist also keine Strategie gegen das sekundäre Impfversagen, also das Nachlassen zunächst entstandener Immunität im Laufe der Zeit.

 

Die Masernimpfung ist eine der wenigen Schutzimpfungen, die tatsächlich eine relevante Herdenimmunität erzeugen, also einen Schutz auch Ungeimpfter in einer Gesellschaft durch die Masse der Geimpften (Näheres s. hier). Dieser Effekt ist naturgemäß umso deutlicher und tragfähiger, je höher der Anteil erfolgreich Geimpfter in einer Gemeinschaft ist (und je homogener sich dieser Anteil auf die Bevölkerung verteilt).

Hier liegt die eigentliche Funktion der MCV2 (oder gar MCV3): da nach jeder Masernimpfung ein kleinerer (oder bei früher Erstimpfung auch größerer) Teil der Geimpften keinen Schutz ausbildet ("primäres Impfversagen"), bringt jede nochmalige Impfung eine weitere Chance, dass die Betroffenen eben doch noch reagieren. Dieser Effekt ist der neuesten Cochrane-Analyse zu Folge jedoch wesentlich geringer, als bisher angenommen.

Und: eine Studie des amerikanischen CDC von 2019 wies nach, dass das Risiko, Masern auf andere Menschen zu übertragen, durch die zweite Masernimpfung nicht substantiell verringert wird (eher im Gegenteil): die so genannte "effektive Reproduktionszahl R" (s. dazu hier), also das Maß für die Infektiosität der Masern, wird durch die erste Impfung zwar deutlich vermindert (0,17 statt 0,76), die zweite Impfung bringt hier aber keinen zusätzlichen Nutzen, R lag in der Studie, die US-amerikanische Masernfälle zwischen 2001 und 2017 umfasste, bei 0,27 (Gastañaduy 2019).

Hier wird einmal mehr deutlich, dass die Rolle der zweiten Masernimpfung hoffnungslos überschätzt wird - für den Einzelnen, wie für die Gemeinschaft...

 

Carryn S. 2019. Vaccine, https://doi.org/10.1016/j.vaccine.2019.07.049

Di Pietrantonj C. 2020. Cochrane Database of Systematic Reviews 2020. Issue 4. Art. No. CD004407

Fiebelkorn AP. 2016. J Infect Dis. 213(7): 1115–1123. doi:10.1093/infdis/jiv555.

Gans H. 2001. J Infect Dis.. 184(7):817–26

Gastañaduy PA. 2019. JAMA Pediatr. doi:10.1001/jamapediatrics.2019.4357

Matysiak-Klose D. 2018.Epid Bull 2018;33:325 – 330

Orenstein WA. 1986. Dev Biol Stand. 65:13-21.

Poethko-Müller C. 2011. Vaccine 29: 7949–7959

RKI. 2012. Masern und Migration. Abruf 25.05.2019

Strebel PM. Measles Vaccines in Plotkin S. Plotkin's Vaccines 7th ed. Philadelphia 2017

Uzicanin A.  J Infect Dis. (2011) 204 (suppl 1): S133-S149. doi: 10.1093/infdis/jir102 Letzter Abruf 09.04.2019

Ward BJ. 1995. J Infect Dis. 172:1591-95. Letzter Abruf 09.04.2019

WHO. WER No 17, 2017, 92, 205–228. Abruf 30.04.2017